DON OSMAN ERKLÄRT, WIE DEUTSCHLAND FUNKTIONIERT!

Endlich löst Osman ein altes Versprechen bei seinem Onkel Ömer in Anatolien ein:
In vierundzwanzig Briefen beschreibt er ihm sein Leben in Alamanya einmal ganz genau. Ob Karneval oder Grippesaison, der Tag der Arbeit, die Bundesliga oder die Deutsche Einheit: keine Besonderheit im deutschen Kalenderjahr kommt zu kurz in dieser Völkerverständigung der besonderen Art.

„Ein wunderbarer Satiriker und messerscharfer Beobachter deutsch-türkischer Beziehungen.“ Badisches Tagblatt

dtv 2008

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Tag des Schrebergartens

Mein lieber Onkel Ömer,
wie geht es Dir und wie geht es meiner lieben Tante Ülkü?
Wie geht’s der hübschen Kuh Pembe, wie geht’s der schwarz-gepunkteten Ziege Fatima und wie geht’s unserem guten, alten Dorfvorsteher Hüsnü?
Lieber Onkel Ömer, wie Du weißt, ich war schon auf Mallorca, ich war schon auf Gran Canaria, ich habe mir einen frechen Langhaardackel gekauft, ich feiere schon seit vielen Jahren feuchtfröhlich Weihnachten.
Aber all diese Bemühungen brachten bisher leider noch nicht den gewünschten Effekt! Mir fehlt der entscheidende Schritt, um von meiner türkischen Parallelgesellschaft rüber in die deutsche Leitkultur-Gesellschaft zu hüpfen. Deswegen habe ich beschlossen einen Kleingarten zu kaufen. Dieser Besitz würde mich mit Sicherheit ohne Umschweife direkt in das Herz der deutschen Leitkultur-Gesellschaft hinein katapultieren.
Du wohnst ja im Dorf in einem großen Haus umgeben von unzähligen Gärten, und um von der Straße zum Haus zu gelangen, musst Du Dir den Weg durch einen echten Dschungel bahnen.
Ich wohne hier in Alamanya mitten in der Stadt, in einem Mehrfamilienhaus in der zweiten Etage, um zu meiner Wohnung zu gelangen muss ich 32 Betontreppen erklimmen und um die nächste Grünfläche zu sehen, muss ich zuerst sechs Haltestellen mit der Straßenbahn, danach acht Haltestellen mit dem Bus fahren und dann drei Kilometer laufen.
Lieber Onkel Ömer, in Alamanya wird so ein großer Garten, wie Du ihn vor dem Haus hast `Kleingarten´ genannt. Nicht, dass Du denkst, dass diese Leute im Hinterhand noch viele andere größere Gärten hätten – nein, das heißt hier nur so! Das ist nämlich ein ganz `lustiges Völkchen´, diese Kleingärtner!
Du hast sicherlich gemerkt, dass ich `lustiges Völkchen´ in Anführungszeichen gesetzt habe. Das war höchst ironisch gemeint. Die sind nämlich überhaupt nicht lustig, diese Kleingärtner, sondern die radikalste Sekte, die unter Allahs Sonne existiert!
Die deutsche Kleingärtner-Sekte, auch bekannt unter dem Namen `Natur-Fetischisten´, hat sich selber die strengsten Auflagen diktiert, damit sie jeden armen naiven Eindringling, der ahnungslos ihr Reich betreten möchte, eliminieren kann. Das unerwünschte Kraut wird an der Wurzel gepackt, ihm wird der Boden unter den Füßen weggezogen und schließlich wird er brutal vernichtet. Danach werden mit riesigen Feuerwerfern die Restwurzeln unter der Erde abgebrannt.
Ich glaube, diese Art der Wurzelbehandlung machen sie nur mit pflanzlichem Unkraut. Die menschlichen Eindringlinge werden nicht verbrannt – jedenfalls nicht öffentlich.
Also die Gesetze der deutschen Kleingärtner sind sehr hart. Die strengen Asylgesetze sind ein Witz dagegen! Aber wenn man es schafft, all diese Barrikaden zu überwinden, den tiefen Schützengraben zu überqueren und die andere Seite der hohen Festungsmauern zu erreichen, dann ist man endgültig im Paradies!
Deshalb gab’s bei der Engin-Familie sofort eine angemessene Aufgabenteilung: Meine Frau Eminanim ging in die Kleingartengebiete, um die aktuellen Preise zu erforschen. Mehmet ging ins Internet, um die strengen Kleingarten-Gesetze zu studieren, und ich ging ins türkische Männercafé, um mit meinem zukünftigen Schrebergarten – und dem damit verbundenen sozialen Aufstieg – bei meinen Kumpels anzugeben!
Die Aufgabenverteilung hat absolut perfekt funktioniert. Schon wenige Stunden später kamen alle mit sehr guten Nachrichten zurück.
Eminanim hatte den „schönsten, putzigsten und gemütlichsten“ Kleingarten Bremens, des Nordens, ja ganz Deutschlands entdeckt, sich sofort in ihn verliebt und alle Verträge auf der Stelle unterschreiben – ich bräuchte nur noch zu bezahlen.
Mehmet hatte aus dem Internet das BKleingG (Das Bundeskleingartengesetz) auch bekannt unter den Namen `Deutsche-Kleingarten-Leitkultur´ runter geladen und dazu noch die Bremischen und die Niedersächsischen Kleingarten-Gesetze. Unser toller Garten ist leider fünf Meter außerhalb vom Bremischem Stadtgebiet und somit müssen wir uns den Niedersächsischen Kleingarten-Gesetzen beugen. Das hat wiederum zur Folge, dass wir die für die ganzen Prüfungen notwendigen Sachverständigen, wie zum Beispiel den „Rasenlängenbeauftragten“ oder den „Heckenhöhenspezialisten“ extra für viel Geld aus Hannover kommen lassen müssen.
Unser Kleingarten war eine echte Oase der Ruhe und Besinnung! Für fast vier Minuten. Denn alle vier Minuten donnerte ein Güterzug an unserer Nase vorbei! Diese unglaublich schöne `Vier-Minuten-Ruhe´ war natürlich nur auf der Vorderseite unseres Kleingartens zu genießen. Die Hinterseite grenzte an eine sechsspurige Stadtautobahn, über die pro Sekunde sechs Autos gleichzeitig bretterten.
Ich fing an, vor Freude wie ein kleines Kind hin und her zu rennen und rumzuhüpfen.
„Osman, sei endlich etwas leiser, du störst die ganzen Nachbarn“, schimpfte meine Frau.
Aber es war schon zu spät, die ganzen Nachbarn hatten sich bereits alle um unseren Gartenzaun versammelt und glotzten mich sehr neugierig an und die sahen überhaupt nicht so aus, als gehörten sie der Crème de la Crème der deutschen Gesellschaft an. Wegen der dunklen Hautfarbe sahen meine neuen deutschen Nachbarn eher wie Türken aus.
„Ich heiße Sükrü, willkommen Nachbar, Prost“, rief der erste und drückte mir eine Flasche eiskaltes Bier in die Hand.
Mevlüt, Ismail, Keçiçi, Rukiye, Dudu, Parmaksiz, Sakir, Rüstü, Cemile, Türkan usw. hießen die anderen.
„Eminanim, ist das etwa keine deutsche Kleingartenanlage?“ fragte ich total schockiert.
„Natürlich nicht! Hast du schon mal einen Deutschen gesehen, der mit der einen Hand Wasserpfeife raucht, mit der anderen Hand Kürbiskerne knabbert und die Schalen einfach auf den Boden spuckt?“ lachte Eminanim fröhlich.
„Frau, wie soll ich denn so jemals in die Mitte der deutschen Leitkultur-Gesellschaft springen?“ jammerte ich.
„Osman, in einer deutschen Kleingartenanlage dürfen wir nicht grillen, die Kinder dürfen nicht spielen, man darf nicht laut lachen, geschweige denn, Hochzeiten und Beschneidungsfeste von Freunden feiern. Du müsstest jeden Tag den Rasen auf die vorgeschrieben Länge rasieren und was das Schlimmste für dich wäre, du dürftest nicht mal deinen Ford-Transit waschen“, sagte Eminanim.
Lieber Onkel Ömer, ich befürchte, dass ich in unserer Kleingartenkolonie „Grün-Glückliches-Klein-Istanbul“ nie glücklich werden kann. Grün bin ich aber schon seit unserer Ankunft – vor Wut!
Pass gut auf Dich auf, bleib gesund, iss genug Knoblauch und danke fünfmal am Tag Allah, dass durch Deinen Garten nicht alle vier Minuten vollgeladene Güterzüge donnern!
Dein Dich über alles liebender Neffe aus dem sonnigen, nicht ganz grün-glücklichen Alamanya
Osman

Die Buchmesse

Mein lieber Onkel Ömer,
wie geht es Dir und wie geht es meiner lieben Tante Ülkü?
Wie geht’s der hübschen Kuh Pembe, wie geht’s der schwarz gepunkteten Ziege Fatima, wie geht’s Deinem störrischen Esel Tarzan und wie geht’s unserem guten, alten Dorfvorsteher Hüsnü?

Lieber Onkel Ömer, was ein Papier ist, das weißt Du ja, da drehst Du immer Deinen Tabak rein, bevor Du es anzündest. Was eine Zeitung ist, das weißt Du auch. Das ist dieses mit vielen nackten Frauen bedruckte Papier, das in Deinem Männercafé rum liegt und womit Du später Deine Gurken verpackst. Aber was ein Buch ist, das weißt Du nicht und das kannst Du auch nicht wissen, weil es in unserem Dorf so gut wie keins von den Dingern gibt.
Bücher interessieren uns irgendwie nicht so richtig. Aber dafür umso mehr die Schriftsteller. Dass diese Menschen netterweise immer öfter unter die fürsorgliche Aufsicht des Staates gestellt werden, wird vom Westen leider total falsch interpretiert. Die arroganten Europäer wollen einfach nicht kapieren, dass die besorgten Türken damit nur versuchen, ihre Autoren vor dem »Bösen Blick« zu schützen und sie abgeschottet und ungestört arbeiten zu lassen.
In Alamanya ist es ganz anders. Hier wird für die armen Schriftsteller nicht so gut gesorgt, aber dafür bezahlen die Deutschen für deren Bücher viel Geld und kaufen gleich Millionen davon. Und je feuchter die Unterhaltungs-Gebiete da drin sind, umso mehr Bücher werden verkauft.

Lieber Onkel Ömer, Du weißt ja, dass ich in den Mittagspausen in Halle 4 dauernd versuche, was Witziges aufs Butterbrotpapier zu kritzeln. Meine Frau schimpft dann immer fürchterlich:
„Wie ich das alles hasse. Die ganzen schwachsinnigen Arbeiten, bei denen sich die Deutschen nicht mehr selber die Finger schmutzig machen wollen, müssen wir armen Ausländer erledigen. Mülleimer leeren, Gemüse verkaufen, Kranke pflegen und jetzt auch noch Witze reißen“, sagte sie letztens.
„Was meinst du denn damit?“, fragte ich verdattert.
„Ich meine, dass wir in Deutschland mittlerweile mehr türkische Komiker haben, als alle Gemüse-, Döner- und Drogenverkäufer zusammen“, zischte sie.
„Aber mein Verlag findet es niedlich, dass es hier Türken gibt, die sogar schreiben können und bezahlt mir auch noch Geld dafür“, habe ich mich verteidigt. Die zweitgrößte Nervensäge des Mittleren Orients konnte ja auch nicht wissen, was für einen riesigen Spaß es macht, bei der Frankfurter Buchmesse vor dem Regal mit dem eigenen Buch zu stehen. Das Problem ist, ich wusste es leider auch nicht. Bisher hatte ich es während einer Buchmesse noch nie geschafft, bei diesen Millionen von unnützen und überflüssigen Büchern mein eigenes tolles Buch ausfindig zu machen. Es ist zum Verzweifeln! Wenn ich es selber nicht mal schaffe, mein eigenes Buch trotz tagelanger, heftigster Suche aufzuspüren, wie sollen denn die armen Leser das schaffen, die ja nicht mal wissen, dass ich überhaupt ein tolles Buch geschrieben habe?

Lieber Onkel Ömer, die Ausmaße der Frankfurter Buchmesse kannst Du Dir gar nicht vorstellen. Ich werde mal versuchen, es Dir zu schildern. Du weißt doch, wie riesig unser Gemüsebazar in der Kleinstadt ist, wo Du im Sommer Deine Gurken und Wassermelonen verkaufst. Jetzt stell Dir mal Hunderte solcher Hallen mit Tausenden von Ständen vor, und alle Stände vollgepackt mit unglaublich vielen Büchern. Nein, das geht nicht, voll mit Büchern kannst Du Dir das Ganze garantiert nicht vorstellen. Stell Dir lieber diese vielen Hallen mit tonnenweise sonnengereiften Gurken und Wassermelonen vor!
Millionen von sonnengereiften Büchern, ich meine, frisch gedruckten Büchern werden während der Messe in den Markthallen ausgestellt. Wer soll sich den Kram denn bloß angucken, geschweige denn lesen? Es gibt sogar chinesische und ostfriesische darunter, wer soll denn so was verstehen?

Heute war es dann also endlich soweit! Nach Jahren des vergeblichen Suchens habe ich zu guter Letzt doch noch mein Buch auf der Frankfurter Buchmesse gefunden. Ich bin vor Freude regelrecht ausgeflippt, wie ein Verdurstender, der in der Wüste eine Wasserquelle entdeckt hat.
Meine tapfere Lektorin hat mich nämlich an der Hand genommen und mich durch die unglaublichen Menschen- und Büchermassen zu meinem Buch geführt. Das ist die Frau, die in meinem Buch in tagelanger Arbeit alle lästigen Artikel neu sortiert hat. Sie ist nämlich so intelligent, dass sie sogar auswendig weiß, vor welchem Wort welcher Artikel stehen muss. Die Deutschen haben nämlich die schlimme Angewohnheit, sämtliche Sachen nach Geschlechtern aufzuteilen und ihnen dann einen Artikel zu verpassen, selbst wenn sie gar kein Geschlecht haben!
Z. B. Deine Gurken sind in den Augen der Deutschen weiblich: Die Gurke!
Im Gegensatz zu einer sauren Gurke wird aber ein süßes Mädchen als nicht weiblich angesehen, sondern sächlich: das Mädchen!
Und es kommt noch schlimmer: Selbst ein tolles Weib wird im Endeffekt auch nur als sächlich eingestuft: das Weib! Für die Deutschen betreibst Du mit Deinen Gurken und Wassermelonen gewissermaßen einen regelrechten Frauenhandel und machst Dich höchst strafbar!
Und wo die deutschen Sexisten sich nicht einigen konnten, da haben sie einfach ein und demselben Ding gleich drei verschiedene Geschlechter verpasst: der Wagen, die Karre, das Auto!

Lieber Onkel Ömer, was ich aber eigentlich erzählen wollte ist: ohne diese kluge Lektorin hätte ich nie die Chance gehabt, mein Buch auf der Buchmesse zu Gesicht zu bekommen. Ich meine im doppelten Sinne!
Als ich dann endlich bei meinem Kunstwerk ankam, blieb ich wie angewurzelt stehen. Ich war wie gelähmt. Dieses eine tolle Buch war mit Abstand das Beste, das Schönste und das Interessanteste auf der gesamten Frankfurter Buchmesse! Warum sonst bin ich denn wohl gerade bei diesem Buch wie angewurzelt stehengeblieben, obwohl es noch Millionen andere gibt, frage ich Dich?
Nach einer Stunde des Gelähmtseins stellte ich erschrocken fest, dass sonst niemand gelähmt war. Genau genommen, außer mir interessierte sich kein einziger Mensch für mein Buch! Hier wimmelt es nur so von ignoranten Analphabeten!

Deshalb hatte ich heute dann den ganzen Tag total schlechte Laune und war völlig frustriert.
Vorhin rief meine Frau an und wollte wissen, wie es meinem neuen Buch denn geht.
„Eminanim, dem geht’s leider wie einem Schiffbrüchigen. Es ist völlig allein gelassen und fristet sein Dasein von der übrigen Welt total abgeschnitten, wie auf einer einsamen Insel!“
„Und wie geht’s dir, Osman?“, fragte sie besorgt.
„Mir geht’s ein bisschen besser als ihm. Ich darf mich wenigstens frei bewegen. Deshalb bin ich stundenlang durch die Hallen gelatscht und habe bisher 172 Bücher geklaut, um meine miese Laune ein bisschen aufzubessern“, habe ich geantwortet.

Lieber Onkel Ömer, um Dir von der unglaublichen Dimension meiner gestrigen Situation ein Bild machen zu können, musst Du nur versuchen Dir vorzustellen, dass in unserem riesigen Gemüsebasar kein einziger Mensch Deine Gurken anschauen, geschweige denn kaufen will!

Ich küsse Dir, Tante Ülkü und allen Älteren in unserem schönen Dorf ganz herzlich mit großem Respekt die erfahrenen Hände und allen Jüngeren mit viel Liebe die hübschen, unschuldigen Augen.
Pass gut auf Dich auf, bleib gesund, iss genug Knoblauch und Danke fünfmal am Tag Allah, dass Du in der Türkei mit Deinen Gurken und Wassermelonen was Leckeres züchtest und nicht etwa ungenießbare Bücher! Es ist mir nämlich viel lieber, wenn die Gurken unter Deiner Aufsicht sind, als Du unter staatlicher!

Dein Dich über alles liebender Neffe aus dem kalten Alamanya,
Osman


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