Ein Deutschtürke auf Reisen!:

Ob Ferien mit der Familie in Anatolien, ein richtiger Männerurlaub,
ein Kurztrip nach Oberbayern oder eine Lesereise nach New York:
Unser Vorzeige-Einwanderer kommt viel herum, und der Leser mit ihm.

„Die skurrilen und komischen Geschichten sind Unterhaltung der ersten Güteklasse!“ Youthzone

„Wer gern Kishon liest, soll es unbedingt auch mit Engin versuchen.
Er ist mit Abstand komischer!“ buchkritik.at

dtv Juli 2007

Leseprobe






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1-Euro-Urlaub

Eminanim hat uns in diesem Jahr direkt an der türkischen Ägäis eine Ferienwohnung besorgt. Die Hotels findet sie einfach zu teuer. Besonders wenn man bedenkt, dass unsere Familie mehr Mitglieder hat als eine mittlere Handballmannschaft. Und diese Ferienwohnung ist wirklich sehr, sehr günstig; selbst für unsere Verhältnisse – sie kostet nämlich nur 1 Euro pro Tag.
Eminanim hat diese supergünstige Sommerwohnung bei unseren Freunden Nedim und Hümeyranim abgestaubt, weil die beiden erst einen Monat später in die Türkei reisen. Meine Frau hat gekämpft wie ein Löwe, um die Wohnung für zwei Wochen zu bekommen, denn die Liste der Bewerber war unendlich lang. Fast die gesamte Belegschaft von Halle 4 und die sämtlichen Bewohner von Kanickelweg standen Schlange – von Nedims und Hümeyranims gierigen Verwandtschaft in der Türkei ganz zu schweigen. Unter diesen erschwerten Umständen ist es ein starkes Stück, dass sich meine Frau volle zehn Tage von der Beute sichern konnte. Besonders wenn man bedenkt, dass die beiden Besitzer in ihrer eigenen Wohnung selber nur eine Woche bleiben dürfen.
Wie dem auch sei, nun sitzen wir also in unserer Ferienwohnung in Akcay, idyllisch schön gelegen, nur schlappe drei Kilometer vom Strand entfernt. Besser gesagt, ich hocke in dieser dämlichen Hütte bei dieser brütende Hitze mutterseelenalleine rum. Wir sind vor knapp zwei Stunden hier angekommen, Eminanim und die Kinder sind sofort schwimmen gegangen und hinterher wollen sie noch einkaufen. Unsere Vorgänger müssen richtige Geizkragen gewesen sein, die haben weder eine einzige Tomate zurück gelassen noch eine halbe Flasche Wasser. Dafür aber jede Menge Müll, die ich bei dieser Affenhitze fünf Stockwerke alleine nach unten schleppen durfte, wobei der fürchterliche Gestank mir sämtliche Nasenschleimhäute für immer verätzt hat. Nach den unglaublichen Ausdünstungen und den Horden von schwarzen Fliegen zu urteilen, standen dieser Unmengen von Plastiktüten schon seit Monaten in der Wohnung. Vielleicht auch seit Jahren – so ein guter Müllexperte bin ich auch wieder nicht, um das fachlich richtig beurteilen zu können. Ich kann mir aber schon vorstellen, wie alle meine Vorgänger in dieser 1-Euro-Wohnung argumentiert haben:
„Ach, lassen wir doch den Dreck da liegen. In ein paar Monaten kommt doch Osman – der kann ja dann den Müll runter tragen. Für was anderes ist der ja sowieso nicht zu gebrauchen.“
Genauso hab ich meiner Frau gegenüber nämlich auch argumentiert, dass doch der Nedim seinen dämlichen Müll selber runter schleppen soll, wenn er hierher kommt, aber Eminanim wollte davon nichts wissen.
„Osman, wie kannst du nur? Es stinkt doch im ganzen Gebäude wie Sau“, hat sie geschimpft. „Du bringst jetzt sofort den Müll runter, hast du gehört!“
„Ist doch ganz normal, dass es im ganzen Haus stinkt“, konterte ich, „wir haben in ja der Wohnung nicht mal Fenster und Türen.“
Ach so, ich glaube, ich hab’s noch gar nicht erwähnt, dass in unserer 1-Euro-Wohnung keine Fenster und Türen sind. Von solchen Nebensächlichkeiten wie Betten, Tische und Stühle will ich erst gar nicht reden. Aber das ganze Überflüssige Zeug braucht man ja im Urlaub im Grunde auch nicht – man liegt den ganzen Tag am Strand, und lebt ansonsten von Luft und Liebe. Der Balkon ist allerdings auch nicht ganz sicher, weil die Brüstung komplett fehlt. Für Kinder und Menschen mit Höhenangst nicht unbedingt zu empfehlen. Genauso wie das Treppenhaus. Die Betontreppen sind schon vollzählig an ihrem Platz, damit schwindelfreie Menschen Nedims Wohnung in der fünften Etage irgendwie erreichen können, ohne jedes Mal die Feuerwehr zu rufen – nur der Treppengeländer fehlt! Man darf nicht aus Versehen in die Versuchung kommen, sich anlehnen zu wollen. Wenn doch, dann nur einmal! Tagsüber geht’s ja noch, aber wenn abends in der gesamten Siedlung der Strom abgestellt wird, dann verwandelt sich unser Strandurlaub in einen echten Abenteuerurlaub.
Aber damit hier kein falscher Eindruck entsteht: die Feuerwehr kann einem eigentlich auch nicht helfen die oberen Wohnungen zu erreichen, weil sie selber das Haus nicht erreichen können. Es fehlen nämlich auch die Straßen, die hat man leider auch vergessen. Durch irgendwelche Büsche und Trampelpfade haben wir uns zum Haus gekämpft und sind völlig zerkratzt und blutend angekommen. Es ist mir völlig schleierhaft, wie man dieses riesige Hochhaus, hier mitten in der Pampa bauen konnte. Es ist aber auch gut möglich, dass der Zufahrtsweg nach Jahren wieder zugewachsen ist. Nedim hat diese Wohnung bereits vor sieben Jahren von einer so genannten ‚Kooperative’ gekauft und sie sollte ihm schlüsselfertig übergeben werden. Aber dazu kam es nicht. Wie gesagt – ohne Türen, keine Schlüssel!
Denn kaum hatte man damals die Außenwände hochgezogen, machte sich der Bauunternehmer mit dem gesamten Geld der Kooperative und der Frau des Architekten aus dem Staub. Die Frau des Architekten tauchte nach fünf Wochen mit verheulten Augen wieder auf, bereute alles, und ging zu ihrem Mann zurück. Nedim hat Jahrelang darauf gewartet, dass sein armes verschwundenes treuloses Geld irgendwann auch voller Reue und mit verheulten Augen zu ihm zurückkehrt – aber leider vergebens! Er blieb auf diese Rohbauwohnung ohne Türen, ohne Fenster, ohne Strom und ohne Straße sitzen. Wir natürlich mit ihm. Ich muss zugeben, ich hätte sogar gerne das Doppelte bezahlt, nämlich 2-Euro pro Tag, aber dafür solchen Luxus wie Türen, Fenster, Tische, Stühle, Strom, Treppengeländer, Balkonzaun und Putz an den Wänden gehabt. Na ja, wenigstens macht uns kein türkischer Straßenlärm verrückt, weil die nächste Straße gut fünfhundert Meter weg ist. Viele Arbeitskollegen haben sich über Nedim lustig gemacht, dass er auf so einen unglaublichen Betrug reingefallen ist. Ich nicht! Ich sehe nämlich überall in der Türkei tausende von diesen Hochhäusern, die wie Skelette in der Landschaft herumstehen. Wie bestellt und nicht abgeholt... ich meine, wie bestellt und nicht ausgebaut. Unglaublich aber wahr: überall in diesen halbfertigen Rohbauten wird gewohnt; und zwar mit Kind und Kegel! Einige Wohnungen haben schon Fenster aber keine Türen, andere haben weder Türen noch Fenster, aber dafür riesige Satellitenschüssel. Nedims Wohnung hat von alledem nichts! Von der 1-Euro-Miete pro Tag, die er im letzten Jahr kassiert hat, konnte er sich gerade Mal eine Klotür leisten. Das nenne ich eine gelungene und sinnvolle Investition. Und in diesem Jahr hofft er – unter anderem auch mit meinem Geld – eine richtige Wohnungstür mit Griff und Schloss kaufen zu können. Das ist auch der Grund, warum immer irgendjemand bei dieser brütende Hitze schwitzend und gelangweilt auf dieser Baustelle Wache schieben muss, während alle anderen im kühlen Nass am Strand planschen dürfen. Obwohl es hier weit und breit nichts zu klauen gibt, außer unseren Klamotten.
Glücklicherweise haben die Nachbarn auch keine Wohnungstür, denn so können wir uns ganz locker unterhalten ohne vor die Tür treten zu müssen.
„Ganz schön heiß heute, Nachbar, oder? Wie heißen Sie denn, ich bin der Mustafa“, ruft der Mann mit dem Stoppelbart von Gegenüber zu mir rüber.
„Ja, schrecklich heiß, ich heiße Osman“, rufe ich zurück.
„Und so wie Sie aussehen kommen Sie auch aus Deutschland, nicht wahr?“ fragt er.
„Ja!“
„Ich kann mir nicht mal die Namen merken, so oft wechseln die Leute in Ihrer Wohnung“, brüllt der Mann weiter.
„Das liegt daran, dass mein Arbeitskollege Nedim sehr großzügig ist. Er verlangt für diese tolle Pension nur 1-Euro-Miete pro Tag!“
„Ich weiß, das hat Nedim mir schon letztes Jahr erzählt. ‚1-Euro-Job’ nennt er das. So was soll in Deutschland jetzt ganz modern sein“, lacht er sich kaputt.
„Was meinen Sie denn jetzt mit 1-Euro-Job?“ frage ich völlig verwirrt.
„Nedim hat doch Angst, dass seine gesamte Sippschaft aus dem Osten sich mit 30 Leuten für immer in seiner Wohnung einnistet, wenn er weg ist. Deswegen lässt er seine Arbeitskollegen aus Deutschland einen nach dem anderen hier Wache schieben und kassiert von denen auch noch Geld dafür.“
Das habe ich gern! Meine wahre Funktion hier ist also Nedims Wohnung gegen kinderreiche Horden aus dem Osten zu verteidigen!
Aber damit nicht genug, ich muss nicht nur gegen ungebetene Gäste aus dem Osten Wache schieben, sondern auch gegen schwarze Fliegen und Mücken, was wirklich sehr schwierig ist, weil wir, wie gesagt, in diesem Loch weder Fenster noch Türen haben. Die schwarzen Fliegen machen mir doch sehr zu schaffen. Gegen die Mücken bin ich am Ende allerdings immer der Sieger. Wenn sie mich erstmal mehrere Male gestochen und sich mit meinem Blut richtig vollgesaugt haben, werden sie dick und fett wie Maradona und verlieren ihre Beweglichkeit. Die kahlen Wände sind übersät mit Mücken- und Blutflecken. Noch zwei Tage länger und es wird so aussehen, als hätten wir alle Wände mit roter Farbe gestrichen. Eigentlich braucht Nedim sich wegen seiner gierigen Verwandtschaft aus dem Osten keine Sorgen zu machen. Bei dieser Mückenplage würden sie nach drei Tagen freiwillig abhauen. Ich muss aber hier bleiben!
Mitten in meinem blutigen Kampf sehe ich plötzlich zwei Leute vor der Tür stehen... ich meine, im Hausflur stehen. Nicht nur die Mücken und Fliegen haben es hier leicht rein zu kommen, sondern auch die Bettler. Ein sehr armselig aussehender dünner Mann mit völlig zerlumpten Kleidern mit einem noch armseligeren kleinen Mädchen schauen mich mit riesengroßen Augen an und halten zitternd die Hände auf.
Ich muss sagen, sogar die Bettler in der Türkei haben im Zuge der EU-Richtlinien echte Fortschritte gemacht. Früher bettelten sie vor Moscheen oder auf dem Basar, aber jetzt geht der Service so weit, dass sie einen sogar im fünften Stock besuchen.
„Allah beschütze Sie, mein Herr, können Sie mir etwas Geld geben?“ fragt der Mann leise.
„Es tut mir leid, ich hab kein Geld“, sage ich.
„Geben Sie mir wenigstens ein paar Cent für meine arme hungrige Tochter“, stottert er.
„Tut mir leid, ich hab wirklich nichts; nicht mal für mich! Meine Frau hat sicherheitshalber das ganze Geld mitgenommen.“
„Mein Herr, geben Sie uns wenigstens etwas zu essen.“
„Hab ich auch nicht. Der Schrank ist völlig leer. Wir sind nämlich erst vor ein paar Stunden angekommen.“
„Mein Herr, bitte, bitte, für meine kleine Tochter etwas zu essen.“
„Kommen Sie rein, gucken Sie doch selber. Wir haben in der Küche nichts zu essen. Wir haben nicht mal eine Küche. Hier ist nichts, ich bin selber am verhungern.“
„Mein Herr, haben Sie denn nicht mal ein bisschen Schokolade oder ein Kiwi?“
„Nein, nichts, gar nichts! Sie können höchstens an der Fliegenklatsche lutschen.“
„Mein gütiger Herr, wenigstens einen kleinen Apfel für meine hungrige kleine Tochter.“
„Ich fang mich langsam an zu wiederholen. Ich hab nichts im Haus, nicht mal einen Apfel.“
„Na gut, dann geben Sie uns wenigstens ein Glas Wasser aus dem Kühlschrank, wir sind am verdursten.“
„Was für einen Kühlschrank? So einen Luxus haben wir hier nicht! Kommen Sie in fünf Jahren wieder. Dieses Jahr will Nedim nur eine Wohnungstür kaufen.“
„Also gut, dann geben Sie uns wenigstens Leitungswasser, Sie, Geizhals, Sie!“
„Tolle Idee, geht aber auch nicht. Das Wasser ist wegen irgendeinem Rohrbruch unten im Keller abgestellt und der Hausmeister kommt erst nächste Woche.“
„Das kann doch nicht wahr sein! Sie haben wirklich überhaupt nichts?“ ruft er schockiert und schaut sich verzweifelt nach rechts und links.
„Sagte ich Ihnen doch bereits!“
„Aber was machen Sie dann hier? Was ist das denn für ein elendes Leben?“ fragt er mich mitleidig.
Das kleine Mädchen wischt sich eine Träne aus den Augen und holt ein Börek aus ihrer Plastiktüte heraus und überreicht es mir:
„Es ist mit Schafskäse gefüllt“, sagt sie, „lassen Sie es sich schmecken, Sie armer Mensch.“
Bei Allah, sogar die Bettler in der Türkei bedauern mich.
„Mann, Ihnen geht’s ja noch mieser als uns“, schimpft der Mann.
„Ja, leider“, murmele ich schuldbewusst.
„Ach, kommen Sie, lassen Sie uns doch zusammen betteln“, schlägt er mir vor.
Angesichts der Tatsache, dass Eminanim und die Kinder erst dann wieder zurückkommen, wenn die Sonne untergegangen und alle Geschäfte geschlossen sind, willige ich ein.
„Hoffentlich sieht meine Frau nicht, dass ich betteln gehe. Sie würde mir das nie erlauben“, sage ich, während wir Hand in Hand vorsichtig die unsicheren Betontreppen runter klettern.
„Machen Sie sich keine Sorgen, meine Frau weiß auch nichts davon“, macht mir mein neuer Arbeitskollege Mut.
„Meine Eltern haben von meinem Nebenjob auch keine Ahnung“, lacht das kleine Mädchen heute das erste Mal.
„Das ist ja prima, wenn kein Mensch davon weiß, dann brauchen wir unseren Verdienst nicht mal zu versteuern“, sage ich.
Mit dem Wort ‚Versteuern’ lande ich bei meinen neuen Arbeitskollegen den Witz des Tages! Die lachen sich kaputt!

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