“Der Bremer Satiriker Osman Engin erzählt in seinem ersten Roman in rasantem Tempo die aberwitzige Geschichte einer Abschiebung. Der `Kanaken-Gandhi´ beweist, dass Engins Humor langstreckentauglich ist.” taz

“Buch lesen, ablachen und nachdenken, weiterempfehlen.” Thüringer Akt.

Leseprobe

















Jetzt bei Amazon kaufen

















Exposé

Stellen Sie sich vor, daß man Ihr Leben, von einem Tag
auf den anderen komplett verändert...

Sie sind ein unbescholtener Bürger, 52 Jahre alt, verheiratet mit der zweitgrößten Nervensäge des Mittleren Orients, haben fünf anstrengende Kinder und einen grasgrünen Ford Transit. Seit 30 Jahren arbeiten Sie als Schlosser in Halle 4 und leben ein ganz gewöhnliches Leben als Gastarbeiter mit Magengeschwür und panischer Angst vor den deutschen Behörden.
Ihr Lebenstraum ist es, irgendwann einmal einen eigenen Gemüseladen zu haben, mit den Nachbarn Tee zu trinken und Allah einen guten Mann sein zu lassen.
Und plötzlich bekommen Sie einen Abschiebungs-Bescheid zugeschickt. Sie sollen aus Ihrer Heimat verschwinden, abhauen, weg - Sie sind nicht mehr erwünscht in Deutschland, auf Nimmerwiedersehen.

Ein Versehen; nicht Sie sind gemeint, es muß sich um eine Verwechslung handeln. Die Ausländerbehörde, in Person einer Frau Kottzmeyer-Göbelsberg, läßt sich jedoch nicht erweichen, deutsche Computer machen keine Fehler. Es sei keineswegs ein Versehen, Sie haben noch eine Woche Zeit, Ihr Leben in Deutschland abzuwickeln und dorthin zuruckzukehren, wo Sie in grauer Vorzeit den Pfeffer wachsen sahen.
Sie haben die qualvollsten und spannendsten acht Tage Ihres Lebens vor. Man läßt Ihnen keine Zeit zum Atmen.
Glücklicherweise haben Sie eine deutsche Verwandte: Frau Tanja. In ihrer Eigenschaft als Vorsitzende des ostfriesischen Bauernverbandes kämpft sie sich gemeinsam mit Ihnen durch das Behörden-Labyrint.

Tapfere Nachbarn und Bürgerinnen stehen auf, eine kämpferische Initiative (Das Haar in der Suppe mißfällt uns sehr, selbst wenn es vom Haupt der Geliebten wär e.V.) wird gegründet, so viel Solidarität, und das alles nur für Sie! Sogar eine Scheinehe wird für Sie organisiert, um Ihnen den Verbleib in der Heimat zu ermöglichen.
Die Zweit-Ehe findet Ihre rechtmäßig angetraute Ehefrau zwar weniger witzig, aber schließlich muß jeder Opfer bringen. Leider geht auch das schief!
Was sollen Sie nur tun? Sie müssen sich plötzlich als „Illegaler“ Ihr Geld verdienen, z.B. als Versuchskaninchen für Herztabletten.

Sie wollen sich nicht vertreiben lassen! Sie sind lange genug in diesem unserem Land, um selbst Michael Kohlhaas und Herrn K. zu kennen. Als eine Art „Anatolischer Schwejk“ verbarrikadieren Sie sich in Ihrem Haus, die freundlichen Punks von nebenan zeigen Ihnen, wie man das richtig macht. Ihre Wohnung geht dabei endgültig zu Bruch.
Leider haben Sie auch nicht das notwendige Kleingeld, um die Ausländerbehörde richtig zu bestechen und landen prompt im Gefängnis.

Unterschreiben Sie dieses Geständnis und wir setzen Sie in ein Flugzeug. Dann wird Ihnen auch nichts Schlimmes passieren. Sie wollen nicht unterschreiben? Das werden wir ja mal sehen...

Sie schaffen es, trotz Folter, die Abschiebehaft irgendwie zu überleben. Zerschunden, gemartert, aber ungebrochen - Sie sind zu allem entschossen! Sie besetzen ein Kernkraftwerk! Jawohl! Denn wenn Sie gehen müssen, dann sollen alle mitkommen!

Trotz aller Bemühungen finden Sie sich in einem großen Flugzeug wieder, es fliegt Sie zurück nach...... Indien? ??

"Kanaken-Gandhi" Ein satirischer Roman von Osman Engin

Zum Titel




Wir kommen in aller Herrgottsfrühe in der Ausländerbehörde an. Wir sind früher da als der Hausmeister, geschweige die Beamten.
„Die haben ja auch keinen Grund, früh zu kommen“, philosophiere ich, „die werden ja auch nicht abgeschoben!“
„Das wäre ja was, wenn man die gesamte Ausländerbehörde abschieben könnte. Aber die Brüder würden wohl gleich auf der ganzen Welt als Flüchtlinge anerkannt. Die haben schon so viele Schicksale auf dem Gewissen“, ruft meine Frau und reicht mir den bewußten Brief von der Ausländerbehörde, der schon seit Freitag im Mülleimer lag:
„Sehr geehrter Herr Engin, Ihr Asylantrag wurde leider abgelehnt. Wir fordern Sie deshalb auf, innerhalb von sieben Tagen, bis zum 25. Juni, zwölf Uhr Mittags, das Gebiet der Bundesrepublik Deutschland endgültig zu verlassen!“
Ob der Stasimensch Leckmikowski mir die Sache eingebrockt hat? Ich kann meiner Frau auch nichts sagen, dann wäre die Überraschung mit dem Gemüseladen dahin.
Stunden später, nach meinem Empfinden kurz vor Feierabend, taucht die erste Beamtin in unserem Flur auf. Sie bahnt sich ihren Weg durch die wartende Masse. Sie schiebt uns mit den Füßen zur Seite und schließt die Tür auf, vor der wir liegen. Mit viel Mühe gegen eine ausgesprochen starke Konkurrenz, haben wir unsere ‘Startposition I‘ zwei Stunden lang verteidigen können.
Noch bevor die Beamtin die Tür hinter sich zuschließen kann, stellt meine Frau ihren Fuß dazwischen.
„Na gut, wenn ihr so wild drauf seid, dann kommt rein. Nicht mal seinen Kaffee kann man morgens in Ruhe trinken.“
Ich habe die Beamtin gleich wiedererkannt. Frau Kottzmeyer-Göbelsberg! Vor vielen Jahren waren wir schon mal bei ihr. Damals hieß sie nur Kottzmeyer. Offensichtlich hat sie in den letzten Jahren einen Herren namens Göbelsberg näher kennengelernt.

Ich weiß noch, Frau Kottzmeyer hat mich seinerzeit gefragt „Was du wollen?!“ Ich wollte die Beamtin damals nicht enttäuschen und stellte mich deshalb rein sprachlich auf ihr Niveau ein. Ich antwortete im besten Tarzan-Deutsch: „Ich Osman Engin, du schicken Brief, ich kommen. Jane und Chita warten draußen vor Tür. Huga, huga!“ Heute kann ich mir dieses Tarzan-Deutsch gar nicht leisten. Ich muß mit ihr anständiges Hochdeutsch reden. Selbst auf die Gefahr hin, daß ich Frau Kottzmeyer-Göbelsberg enttäusche. Aber ich muß ihr klarmachen, daß wir hier bereits seit Jahren leben.
„Warum sind Sie gekommen?“ fragt sie plötzlich. Oh, ihr Deutsch hat sich aber enorm verbessert!
„Sehr geehrte Frau Kottzmeyer-Göbelsberg, mein werter Name ist Osman Engin. Und dies ist mein Gemahlin, Frau Eminanim Engin. Der Grund, warum wir Sie heute so früh stören, den werde ich Ihnen jetzt erklären.“
„Sachte, sachte, eins nach dem anderen. Wie heißen Sie noch mal?“ stoppt sie mich.
Schade, ich war so gut in Fahrt.
„Osman Engin“, antworte ich reichlich enttäuscht.
„Das Mistding hier muß erstmal warm werden“, schimpft sie und schlägt mit der Faust auf den Monitor, „mein Gott, das waren noch schöne Zeiten, als wir den ganzen Kram noch ordentlich auf Karteikarten hatten!“ stöhnt sie laut vor sich hin.
„Mensch Osman, das Ding ist ja noch lahmarschiger als du morgens“, lästert meine Frau auf türkisch.
„So, jetzt geht‘s endlich! Also gut, wie heißen Sie nochmal?“
„Osman Engin!“
„Os-man En-gin?!“
„Richtig!“
„Männlich?“
„Richtig!“
„Wohnhaft in Karnickelweg 7b?“
„Richtig!“
„Verheiratet?“
„Richtig!“
„Ihre Frau heißt Eminanim Engin?“
„Richtig!“
„Fünf Kinder?“
„Richtig! Meine mittlere Tochter Zeynep macht zur Zeit Urlaub bei ihrer Tante in der Türkei.“
Meine Frau lächelt endlich wieder:
„Na toll, gleich wird die Verwechslung aufgedeckt!“
Da ruft Frau Kottzmeyer-Göbelsberg:
„Abgelehnt!“
„Abgelehnt, was?“ frage ich fassungslos.
„Ihr Asylantrag wurde abgelehnt!“
„Das kann nicht sein“, stottere ich „das stimmt nicht.“
„So, das stimmt also nicht?! Wenn es euch Brüdern paßt, dann sagt ihr immer ‘richtig‘, und wenn es nicht paßt, dann heißt es plötzlich ‘das stimmt nicht‘. Wir spielen hier doch nicht ‘Schiffe versenken‘!“ ereifert sich Frau Kottzmeyer-Göbelsberg.
„Aber ich habe doch gar keinen Antrag auf Asyl gestellt! Wie kann man denn einen Antrag ablehnen, der überhaupt nicht gestellt worden ist?! Oder ist für Sie jeder Ausländer ein potentieller Asylbewerber?!“ versuche ich jetzt den Fall zu klären.
Die Beamtin rückt ihre Brille zurecht und schaut sich den Monitor ganz genau an:
„Also, Osman Engin, verheiratet mit Eminanim Engin, wohnhaft in Karnickelweg 7b, fünf Kinder und Sie können selbst hier im Computer nachsehen, Ihr Asylantrag ist abgelehnt. Das tut mir schrecklich leid für Sie. Aber das sind nun mal Tatsachen, an denen wir nicht vorbeikommen! Ich kann da nichts machen. Es hat schon alles seine Richtigkeit, Sie müssen bis zum 25. Juni, 12 Uhr mittags, Deutschland verlassen haben. Ich kann das leider auch nicht ändern!“
„Osman, du hast vor kurzem einen Antrag auf Wohngeld gestellt, kann es sein, daß du das falsche Formular ausgefüllt hast?“
„Frau, du hältst mich ja für völlig bescheuert?“ schimpfe ich verärgert, „außerdem war das gar nicht hier, sondern beim Wohnungsamt!“
„Das hat gar nichts zu sagen, alle Behörden sind miteinander verknüpft. Erst letzte Woche habe ich wegen des Stroms bei den Stadtwerken angerufen und die schickten mir eine Hebamme!“, ruft Eminanim, dann wendet sie sich an die Beamtin:
„Kann denn da nicht irgendeine Verwechslung vorliegen? Vielleicht wurde ja nur unser Antrag auf die deutsche Staatsbürgerschaft abgelehnt, oder das Wohngeld. Muß es denn gleich ein Asylantrag sein, der abgelehnt wird?!“
„Aha, da haben wir es ja“, triumphiert sie, „jetzt haben Sie sich verplappert, daß Sie wohl einen Asylantrag gestellt haben. Ich will ja nicht damit prahlen, aber ich muß zugeben, daß ich in der psychologischen Kriegsführung mit diesen Ausländern sehr gut ausgebildet worden bin. Kein Täuschungsmanöver der feindlichen Seite kann mich verwirren. Ich durchschaue auch die letzten und hinterhältigsten Tricks meiner Gegner.“
Mittlerweile haben sich auch die anderen fünf Beamten in dem großen Büro an ihren Schreibtischen niedergelassen und sie klatschen alle begeistert Beifall für ihre Kollegin.
„Mit so billigen Tricks kommt ihr bei uns nicht durch“, ruft der Büroleiter mit dem gelben Pullover.
„Komm, geht mal wieder raus. Draußen warten genug Leute, die auch mal drankommen wollen!“
„Osman, wenn wir jetzt mit diesem Ergebnis den Raum verlassen, dann müssen wir auch nächste Woche Deutschland verlassen. Tue endlich was, anstatt doof in der Gegend rumzustehen“, schimpft meine Frau.
„Liebes Weib, beruhige dich doch! Wenn eine Beamtin, also eine Repräsentantin des deutschen Staates uns glaubhaft versichert, daß unser Asylantrag abgelehnt ist, dann ist der Antrag eben abgelehnt!“ sage ich verzweifelt.
„Mach mich nicht wahnsinnig, Osman! Du weißt ganz genau, daß wir keinen Asylantrag gestellt haben.“
„Frau, willst du vielleicht alles besser wissen, als der allwissende deutsche Staat, mit seinen ganzen Behörden, Computern, Karteikästen und Beamten? Du weißt doch nicht mal, wie alt du wirklich bist!“ Die Beamtin ruft gleich dazwischen:
„Ich kann Ihnen gleich sagen, wie alt Ihre Frau ist!“
„Halt, sind Sie verrückt, doch nicht vor all diesen Leuten“, wird sie von Eminanim sofort gestoppt. „Also gut, wenn das Computer so schlau ist...“
„Es heißt nicht ‘das Computer‘“, wird sie von der Beamtin sofort korrigiert, „der Computer ist nicht sächlich, sondern immer noch männlich! Wenn ich bitten darf!“
„Also, ich kann nichts männliches an diesem Kunststoffding entdecken,“ höhnt meine Frau, „oder sieht Ihr Gatte, der Herr Göbelsberg, etwa so aus? Dann viel Spaß!“
„Öhm... Frau Engin, werden Sie hier nicht unverschämt!“
„Also gut, wenn der Herr Computer so schlau ist, wie er tut, dann fragen Sie ihn doch mal, wann wir nach Deutschland gekommen sind!“
„Das hätten wir gleich“, lächelt die Beamtin selbstbewußt und läßt den Computer ein paar mal laut piepsen:
„17. August 1967!“
„Vor fast genau 30 Jahren also?“
„Ja, das stimmt, vor ungefähr 30 Jahren sind Sie in Deutschland eingereist.“
„Und seit über 30 Jahren warten wir also auf das Ergebnis unseres Asylantrages“, stellt Eminanim höchst schlitzohrig fest. Ich bin begeistert von ihrer Argumentation und schlage ihr dreimal anerkennend mit der Faust auf die Schulter.
Alle sechs Beamten und die vier Computer im Raum sind sprachlos. Nach mehreren Sekunden atemloser Stille gibt einer der Computer endlich ein Lebenszeichen von sich: Er piepst ganz kläglich.
Um ihren Triumph richtig auszukosten, legt meine Frau noch eins nach:
„Meine Damen, meine Herren, finden Sie es nicht völlig unwahrscheinlich, daß in Deutschland über einen Asylantrag erst nach 30 Jahren entschieden wird?! Kennt jemand von ihnen irgendeinen Richter, der eine komplette Asylantenfamilie 30 Jahre lang hier in Deutschland auf Staatskosten durchfüttern lassen würde? Wir sind keine Asylbewerber, wir sind Arbeiter! Für die fünf Kühe, die wir in der Türkei haben, dafür mußten wir all die Jahre hier hart arbeiten“.
Bei Allah, ich habe nie gewußt, welch tolles Gefühl mir immer verborgen blieb. Zum erstenmal in meinem Leben spüre ich, wie herrlich es sein kann, wenn man stolz auf seine Partnerin ist!
Aber Frau Kottzmeyer-Göbelsberg ist in der psychologischen Kriegsführung gegen Ausländer wirklich bestens trainiert. Ganz objektiv gesehen, muß ich zugeben, daß ihr Gegenangriff wirklich hervorragend ist:
„Oh, daß kann einen ganz simplen Grund haben: Die ganzen Jahre habt ihr hier unauffällig als normale Gastarbeiter gelebt, aber hinterlistig wie ihr seid, habt ihr vor zwei Jahren einen Asylantrag gestellt!“
Alle Kollegen im Raum sind begeistert von ihr und klatschen jubelnd Beifall:
„Genau! So wird‘s gewesen sein!“
„Richtig, gib‘s ihnen, Anneliese“, tönt es von allen Seiten.
„Mach‘ sie fertig, reiß ihnen die Eier ab!“ schreit eine solide Mittfünfzigerin, von der man sowas nie erwartet hätte.
Und alle Computer blinken und piepsen vergnügt vor sich hin.
„Finden Sie es eigentlich logisch“, stehe ich tapfer meiner Frau bei, „daß wir so blöd sind, einen Asylantrag zu stellen, wo wir doch als Gastarbeiter bereits seit 30 Jahren glücklich und problemlos hier leben können?!“
„Das dürfen Sie mich nicht fragen! Ich weiß auch nicht, warum die ganzen Asylanten ausgerechnet hier bei uns in Deutschland einnisten wollen. Ich habe das bisher nie verstehen können“, philosophiert meine Sachbearbeiterin.
Meine Frau und ich gucken uns gegenseitig hilflos an. Ich fühle mich in die Ecke gedrängt, total ratlos. Und mit dem Rücken zur Wand starte ich einen letzten schwachen Gegenangriff:
„Also gut, nehmen wir an, wir hätten einen Asylantrag gestellt und der wäre abgelehnt worden. Dann würden wir doch nicht versuchen, die Existenz dieses Antrags zu leugnen, sondern würden sofort einen zweiten Antrag stellen. Finden Sie das nicht auch?!“
„Mag sein, aber vielleicht ist das bereits Ihr zweiter Antrag. Das kann ich von hier aus nicht ersehen. Ich weiß nur eins: In sieben Tagen müssen Sie aus Deutschland raus sein. Sonst helfen wir auch gerne nach!“
„Haben Sie Erbarmen, Frau Beamtin“, rufe ich mit weinerlicher Stimme. „Sagen Sie uns doch bitte wenigstens, mit welcher Begründung der Antrag abgelehnt wurde!“
„Es tut mir leid, hier auf dem Monitor habe ich nur das Ergebnis, aber natürlich nicht den ganzen Vorgang. Dafür müßte ich erst in ihre Akte einsehen. Aber wie ich hier an dem Vermerk erkenne, ist sie auf dem Dienstweg in der Behördenpost.“
„Nun geht schon raus, das ist hier nicht ihr Privatbüro“, ruft der Beamte am Schreibtisch gegenüber, „wir haben draußen noch ein paar Kunden stehen.“
Meine Frau und ich, wir schauen uns nicht mal mehr an. Keiner will dem anderen zeigen, wie elend er sich fühlt.
„Nun gehen Sie schon raus, machen Sie Platz für die anderen Versager draußen vor der Tür, wenn Sie nichts mehr zu sagen haben!“ bellt Frau Kottzmeyer-Göbelsberg in ihrer unnachahmlich sympathischen Art.
„Doch, Pisse“, brülle ich und starte meinen allerletzten Versuch.
„Pisse? Was soll das heißen? Werden Sie hier bloß nicht frech!“
„Doch, doch, ich habe vor 30 Jahren Pisse gekauft, daran kann ich mich noch genau erinnern.“
„Wohl bekomms, lassen Sie es sich schmecken“, rufen die Kollegen von den anderen Schreibtischen.
„Ich weiß es genau, als uns die deutschen Ärzte vor 30 Jahren in der Türkei untersucht haben, ob wir auch wirklich gesund genug sind, für die schwere Arbeit in Deutschland, da habe ich Pisse gekauft. Ich wollte damals kein Risiko eingehen. Mein Urin hätte vielleicht ungesund sein können. Und ich wollte meine Bewerbung auf gar keinen Fall in Gefahr bringen. Für die paar Tropfen verlangte dieser Urinverkäufer damals 200 Lira von mir. Ich erinnere mich noch ganz genau daran. Ich wollte den Halsabschneider runterhandeln und bot ihm freiwillig 100 Lira an. Der Gauner sagte, das bringe nicht mal das Kapital wieder herein, welches er in seinen Urin investiert habe. Ich habe damals entsetzt gebrüllt: ‘Aber seit wann kostet denn Pinkeln Kapital? Auf einer öffentlichen Toilette mußt du sogar dafür bezahlen, um Wasser lassen zu dürfen!‘ Der Gangster erwiderte: ‘Natürlich kostet Pissen Kapital, mein Herr. Von nichts kommt nichts! Man muß ständig was trinken, damit überhaupt etwas kommt, nicht wahr?‘ Schließlich einigten wir uns damals vor 30 Jahren auf 150 Lira!
Was will ich damit sagen?! Liebe Frau Kottzmeyer-Göbelsberg, wie könnte ich mich an dieses Ereignis so detailliert erinnern, wenn ich es nicht selbst erlebt hätte? Dies ist doch das eindeutige Beweis dafür, daß ich damals vor 30 Jahren als ordentlicher Gastarbeiter nach Deutschland eingereist bin.“
Am Funkeln der Augen meiner Frau erkenne ich, daß sie vor lauter Freude über meine phantastische Argumentation kurz davor ist, hier und jetzt, einen exquisiten Bauchtanz vorzuführen.
Nach nur kurzer Bedenkzeit kommt der Konter von der besseren Seite des Schreibtisches:
„Schön, daß Sie sich daran erinnern können, Herr Engin. Ich glaub Ihnen ja, daß Sie als Gastarbeiter nach Deutschland gekommen sind. Aber ich weiß auch, daß Sie einen Asylantrag gestellt haben und ich weiß auch, daß der abgelehnt worden ist. Und durch Ihre Erzählungen bin ich in meinem Gesamteindruck bestätigt worden, daß Sie überhaupt keine Scheu kennen, wenn es darum geht, deutsche Behörden hinters Licht zu führen. Ich fühle mich persönlich beleidigt, daß Sie allen Ernstes glauben, ich würde auf Ihre billigen Tricks hereinfallen. Und das mit dem falschen Urin, das merke ich mir. Das ist ein Fall für die Akte! Ich werde bei allen meinen Ausländern nachträglich Urinproben durchführen lassen! Und jetzt raus hier!“
Mist, mein tolles Argument hat sich zu einem zusätzlichen Problem entwickelt. „Aber wo sollen wir denn sonst hin?“ frage ich hilflos.
„Ach, gehen Sie doch dahin, wo der Pfeffer wächst!“
„Wo wächst denn bitteschön der Pfeffer?“
„Frau Engin, schaffen Sie endlich Ihren Mann hier raus, sonst verrate ich jedem hier im Büro Ihr wahres Alter.“ Sekunden später finde ich mich auf dem Flur wieder.
„Halt endlich die Klappe, Osman!“ zischt mir Eminanim genervt ins Ohr. „Laß uns hier raus, bevor du alles nur noch schlimmer machst, als es ohnehin schon ist! Wie kann man nur so blöd sein und diesem Drachen von einer Beamtin freiwillig erzählen, daß man absoluter Profi darin ist, die deutschen Behörden zu bescheißen. Du, Versager, du!!“
War sie nicht vor einer Minute noch ganz stolz auf mich?! Aber so sind die Frauen! Kennst du eine, kennst du alle!
„Wir kommen morgen wieder, Frau Kottzmeyer-Göbelsberg, hoffentlich ist unsere Akte dann endlich da“, ruft Eminanim von der Tür aus noch in das Büro hinein.
„Osman, du Idiot! Warum hast du denn nicht auch noch erzählt, wie oft du schon beim Ladendiebstahl erwischt worden bist. Oder wie oft du mit dem Bus schwarzgefahren bist. Diese beiden Argumente hätten sie bestimmt umgestimmt!“
„Oh, Frau, wann werden wir endlich aus diesem bösen Traum erwachen? Kneif‘ mich mal in den Finger.“ Sie tritt mit voller Wucht gegen mein Schienbein. Mit Tränen in den Augen krieche ich aus der Behörde und schleife mein lebloses rechtes Bein hinter mir her.
„Ich habe doch nur gesagt, kneifen. Wenn ich wollte, daß man mir die Beine bricht, dann hätte ich mich doch vor die Straßenbahn gelegt. Komm, wir gehen erstmal nach Hause, wir müssen einen guten Plan ausarbeiten, wie wir aus diesem Schlamassel wieder heil herauskommen.“
„Nix da, du gehst schön Arbeit suchen! Keine Auffälligkeiten! Alles muß seinen normalen Gang behalten. Unser ganz alltägliches, normales Leben ist der überzeugendste Beweis, daß wir niemals einen Asylantrag gestellt haben.“
„Frau, ich arbeite doch seit Jahrzehnten tagaus, tagein. Laß mich wenigstens jetzt nicht mehr schuften, wo sie uns doch schon nächste Woche abschieben.“
„Noch schiebt uns hier keiner ab! So leicht werde ich es denen nicht machen. Freiwillig läßt sich kein Mensch einfach so vertreiben. Ich werde ganz Deutschland auf den Kopf stellen. Da müssen die Kerle schon mit Panzern und Kanonen kommen, um uns hier loszuwerden. Deutschland wird Eminanim Engin noch kennenlernen. Die wissen nicht, mit wem sie es zu tun kriegen! Aber noch müssen wir abwarten, bis die Akte wieder da ist. Wir können nur dann angemessen reagieren, wenn wir wissen, was da schief gelaufen ist. Wir dürfen uns auf gar keinen Fall aus der Bahn werfen lassen. Wir dürfen denen keine Argumente in die Hände spielen. Du gehst jetzt also schön Arbeit suchen . Und nicht wieder schwarzfahren, hast du gehört!“
„Aber als abgelehnter Asylbewerber gibt mir das Arbeitsamt doch kein Job!“
„Dann mußt du eben Schwarzarbeiten. Geh doch zu ‘Arbeitsamt-Necmeddin‘!“

Ich habe kaum noch Hoffnung, daß unsere Ehe nach soviel unglücklichen Jahren ein gutes Ende nehmen wird, so wie in den Romanen von Rosamunde Pilcher, Barbara Kartland und Karl May.
Unser vergeblicher Versuch seit 33 Jahren zusammenwachsen zu lassen, was nicht zusammen gehört, sozusagen unser 30-jähriger Krieg! Mit keinem psychologischen Trick ist meiner Frau beizukommen, damit zu Hause endlich Frieden herrscht. Nicht mal die drohende Gefahr von außen, nämlich unsere Abschiebung durch Frau Kottzmeyer-Göbelsberg, hat in ihrem Bemühen, mich ständig fertigzumachen, etwas verändert.
Mein früher durch Moskau gelenkter Sohn Mehmet - jetzt versucht er Moskau zu lenken - plappert ständig wie ein Roboter:
„Gewissenlose Regierungen in aller Welt erfinden einfach die angebliche Bedrohung des eigenen Volkes von außen durch böse ausländische Mächte, um von ihrer Unfähigkeit abzulenken. Da greift man zum Beispiel sehr gerne auf einen benachbarten Staat zurück, auf eine fremde Religion, auf irgendeinen Staatschef, der kurzfristig seinen Besuch absagt, auf fliegende Untertassen vom Mars, Jupiter und Neptun. Mit diesem genialen Trick haben die Regierungen von Griechenland und der Türkei es jahrelang gegenseitig geschafft, die Bevölkerung von ihrer Machtgier und Korruption abzulenken. Daß sie mit ihrer gespielten Hysterie die beiden Völker nebenbei zu Todfeinden gemacht haben, naja, das nimmt man dann halt billigend in Kauf. Das nimmt man nicht nur billigend in Kauf, dieser Schwachsinn ist sogar gern gesehen. Denn bei Bedarf wird diese Lüge jederzeit neu in die Mikrowelle geschoben, um dann mit einigen wenigen Zutaten ofenfrisch serviert zu werden.
Und wenn das alles nichts hilft, dann hetzt man das Militär wie einen tollwütigen Hund auf die eigenen Bürger. Oder die Militärs machen das von sich aus. Machtgierige Militärs braucht man in solchen Fällen gar nicht lange zu bitten. Dann wird das Volk von den eigenen Soldaten niedergewalzt. Bei den Völkern entsteht dann regelmäßig sowas wie ein ‘Ödipuskomplex‘, den man auch als ‘Kastrationsangst‘ bezeichnet. Insider definieren diese Angst auch als klassisches ‘Schlagstock-in-den-Arsch-Trauma‘. Das Militär ist so ziemlich die unsinnigste Erfindung in der Menschheitsgeschichte neben dem Mondauto, dem Zölibat, dem Stierkampf, der Atombombe und dem Hulahop-Reifen. Dieser schwule Männerhaufen ist so überflüssig wie ein eitriger Pickel.“ Das also leiert mein kommunistischer Sohn bei jeder sich bietenden Gelegenheit. Den Text kann ich inzwischen fast auswendig.
Aber nicht mal dieser Masche, mit der man sonst ganze Völker einlullen kann, hat bei meiner Frau etwas bewirkt. Oder ist sie gerade deswegen schon immun dagegen?!
Aber es soll auch solche Menschen geben, die sich bei übermächtiger Gefahr von außen mit dem Feind zusammenschließen. Um so der drohenden, eigenen Vernichtung zu entgehen. Aber nein, das kann doch nicht sein, Frau Kottzmeyer-Göbelsberg und Eminanim unter einer Decke?! Nein, das kann nicht wahr sein!
Obwohl sie beide unübersehbare Ähnlichkeiten aufweisen: Beide sind Frauen, beide mögen keine türkischen Männer, beide sehnen sich danach, mich aus ihrem Leben, beziehungsweise aus Deutschland, verschwinden zu lassen, beide tragen BH-Größe 140 Z (Sonderanferti-gung), beide arbeiten nicht in Halle 4 (jedenfalls habe ich sie da noch nie gesehen), beide tragen lange, fleisch-farbene, Baumwollunterhosen (von der einen weiß ich es genau, von der anderen will ich es gar nicht wissen), beide haben noch nie Urlaub in Kambodscha gemacht und außerdem hassen mich beide wie die Pest. Viel mehr hatten Deutschland und Rußland seinerzeit ja auch nicht gemeinsam, als sie Polen von der Landkarte strichen.

Ich springe so schnell ich kann in die Straßenbahn hinein, damit heute wenigstens mein linkes Bein von ihrer Bösartigkeit verschont bleibt.
„Zwei Fahrkarten bitte!“
Der Fahrer schaut sich um und sagt:
„Zwei? Warum zwei?“
„Weil mir gerade eingefallen ist, daß ich heute morgen vor lauter Müdigkeit vergessen habe, meine Fahrkarte abzustempeln. Ich muß eine Strecke schwarzgefahren sein, denke ich mir. Und jetzt will ich zwei Karten dafür abstempeln, um das wieder gut zu machen.“
„Mein Gott, warum müssen immer in meinen Wagen die ganzen Bekloppten einsteigen“, stöhnt er und reißt zwei Fahrkarten ab.
„Mein Sohn, wie der große Präsident Kennedy schon sagte: Frage dich nicht, was der Staat für dich tun kann, sondern frage dich selbst, was du für Deutschland tun kannst! Denn es steht geschrieben, du sollst nicht stehlen, du sollst nicht deines Nächsten Weib begehren, du sollst nicht lügen, du sollst nicht töten, und du sollst nicht schwarzfahren!“ belehre ich ihn. „Mann, wo hat man Sie denn aufgesammelt?! In welchem Jahrhundert leben Sie eigentlich?! Ich hab‘ nicht gedacht, daß sowas noch frei rumläuft! Los, nehmen Sie Ihre Karte und gehen Sie! Gehen Sie weit, gehen Sie schnell, aber gehen Sie!“
Ich muß überall Spuren von meinem ehrlichen Dasein hinterlassen. All diese kleinen Mosaiksteine müssen sich später zusammenfügen. Zusammenfügen zu einem gewaltigen Granit. Zu einem Granit der Gesetzestreue, der bedingungslosen Ehrlichkeit und der gutbürgerlichen Moral. Damit sie mich nicht abschieben können!
„Entschuldigung, ich hab‘s mir doch anders überlegt. Ich will doch nicht zwei Karten haben“, sage ich ganz schüchtern, „geben Sie mir lieber gleich drei Karten. Vielleicht habe ich ja früher, irgendwann mal, vergessen zu stempeln. Sicher ist sicher, geben Sie mir lieber drei!“
„Warum nicht gleich ein Dutzend?! Vielleicht sind Sie ja ein notorischer Schwarzfahrer und wissen es gar nicht!“
„Sie haben ja so recht! Man kann nie vorsichtig genug sein. Geben Sie mir lieber gleich ein Dutzend.“
Mit zwölf abgestempelten Fahrkarten in der Hand laufe ich stolz nach hinten. Sobald diese Abschiebungsgeschichte geklärt ist, werde ich mindestens elfmal schwarzfahren. Aber wenn ich es mir so recht überlege, kann ich ohnehin nicht in sieben Tagen das wiedergutmachen, was ich 30 Jahre versäumt habe. Dafür braucht man bestimmt nochmal 30 Jahre. Ob die Behörde bereit ist, meine Abschiebung so lange außer Kraft zu setzen?! Wird die Türkei mich nach 30 Jahren Deutschland überhaupt wieder aufnehmen wollen?! Nach all den Jahren bin ich doch mehr Deutscher als Türke. Und meine Kinder erst! Was ist, wenn uns auch noch die Türkei abschiebt?! Welches Land würde uns dann aufnehmen wollen?! Warum soll uns denn überhaupt irgendein anderes Land aufnehmen, wenn mich Deutschland nicht will, obwohl ich seit 30 Jahren hier lebe. Und wenn mich die Türkei nicht will, obwohl ich vor 52 Jahren dort geboren wurde. Da melde ich mich doch besser gleich für die erste Mondfähre an.
Hinter dieser Abschiebungsaktion steckt bestimmt dieser Leckmikowski aus der Zone. Das hat der garantiert von langer Hand geplant. Das kriegt er zurück! Das zahl‘ ich ihm heim! Den mach‘ ich so fertig, daß der sich nach der Mauer zurücksehnt! Der wird sich wünschen, er hätte Sibirien nie verlassen!
„Na, Opa, hast du immer noch nicht genug?“, brüllt mir eine bestens bekannte Stimme ins Ohr. Bei Allah, schon wieder die beiden Räuber von heute morgen. Aber egal, ich habe nichts mehr, was die beiden mir abnehmen können. Aber warum bin ich wieder der einzige Fahrgast weit und breit? Wissen alle in der Stadt Bescheid, daß das eine Gangsterbahn ist und nur ich nicht?! Haben die Räuber die Straßenbahn in ihre Gewalt gebracht?! Ist der Fahrer etwa auch einer von denen, arbeiten die zu dritt?! Werde ich vielleicht jetzt sogar als Geisel entführt; womöglich nach Kuba?!
„Hier Jungs, ihr könnt noch meinen Werksausweis von Halle 4 haben, den brauche ich wirklich nicht mehr!“
„Willst du uns verarschen, du Wichser! Du hast schon wieder Geld, du hast doch gerade Fahrkarten bezahlt.“
„Das war auch mein letztes Geld! Das hat euer Kollege da vorne mir schon alles abgeknöpft. Also ihr müßt schon morgen wiederkommen, heute habe ich absolut nichts mehr für euch. Oder wir können es so machen, daß ich morgen wiederkomme.“
Es ist ein schönes Gefühl, wenn man nichts mehr zu verlieren hat. Schon zum zweiten Mal kann ich es mir heute erlauben, eine große Klappe zu haben.
„Paß mal auf, Alter, wir mögen es nicht, wenn sich Penner wie du über uns lustig machen!“ zischt der andere und schneidet mir blitzschnell, noch bevor ich mich bewegen kann, mit dem Messer das rechte Ohr ab!
Der Schmerz läßt mich fast wahnsinnig werden.
„So, das hast du nun davon!“ und stopft mir das abgetrennte Ohr in meine Jackentasche:
„Los, Alter, jetzt brav zu Oma, die kann das wieder zusammeflicken.
„Ihr Arschlöcher, ihr miesen Schweine, ihr gottverdammten Ratten!“ schreie ich voller Schmerz und Wut und springe aus der Piraten-Straßenbahn.
Mit der rechten Hand drücke ich auf die rechte Seite meines Kopfes, da wo früher mal mein Ohr war. Ich halte sogleich ein Taxi an.
„Los, fahren Sie so schnell Sie können zum nächsten Krankenhaus!“
Auf dem Rücksitz lege ich mich auf die linke Seite, damit es nicht so viel blutet.
„Was ist denn mit Ihnen passiert?“ fragt mich der ausländische Fahrer neugierig, „daß Sie mir nicht den Wagen dahinten mit Blut versauen!“
„Quatschen Sie nicht so viel! Stellen Sie sich vor, ich wäre im neunten Monat schwanger, und das Baby müßte jeden Moment kommen!“
„In Ordnung, ich fahre so schnell wie ich kann. Machen Sie sich aber auch wegen des Babys keine Sorgen, ich bin die geborene Hebamme! Schließlich habe ich Medizin studiert.“
„Was, Sie sind ein Arzt und fahren Taxi?“
„Logo! Alle ausländischen Taxifahrer sind hier entweder Ärzte, Ingenieure oder Rechtsanwälte. Aber sagen Sie doch mal, was ist denn mit Ihnen passiert?“
„Mir haben sie in der Straßenbahn gerade ein Ohr abgeschnitten!“
„Wieso, sind Sie schwarzgefahren? Wenn Sie wollen, kann ich es hier sofort im Wagen wieder annähen, Herr van Gogh!“
„Nein, nein, fahren Sie mich nur schnell zum nächsten Krankenhaus! Aber es ist schon beruhigend, daß ein Arzt in meiner Nähe ist.“
„Und bei der Rückfahrt können Sie sich beim Taxiruf einen Rechtsanwalt bestellen.“

Während ich vor dem Krankenhaus schnell aussteige, sage ich zum Fahrer:
„Tut mir leid, ich habe kein Geld dabei. Aber wenn Sie hier ein Moment auf mich warten wollen, dann können wir zusammen nach Hause fahren und ich kann Ihnen das Fahrgeld geben.“
„Aber beeilen Sie sich, Herr van Gogh, das Taximeter ist bereits auf 21 Mark 30 ! Ich laß die Uhr laufen!“

Im Krankenhaus ziehen mich die Krankenschwestern gleich aus und packen mich auf den Operationstisch.
„Wo haben Sie denn Ihr Ohr gelassen?“ fragt mich der Arzt, „ ich hab‘s eilig, ich muß gleich noch zwei Nierenverpflanzungen und eine Herztransplantation durchführen!“
„In meiner Jackentasche dort drüben“, stöhne ich halb wahnsinnig vor Schmerzen.
Die hübsche, blonde Schwester holt es sogleich.
„Mann, Sie wollen doch bestimmt nicht, daß ich Ihnen das häßliche Ding da annähe?“ ruft der Arzt angewidert.
„Doch, doch, das trage ich schon über 50 Jahre, man gewöhnt sich an alles.“
In dem Moment sehe ich mit Entsetzen, daß er ein Stück vergammelte Knoblauchwurst in der Hand hält.
„Oh, nein, das doch nicht! Das muß aus meinem alten Pausenbrot gefallen sein. Schauen Sie bitte in der anderen Tasche nach“, stöhne ich und stopfe mir die Knoblauchwurst in den Mund. Ich kaue demonstrativ gründlich, um zu beweisen, daß dies nicht mein Ohr sein kann.
„Igitt, ein Kannibale, der Kerl hat sein eigenes Ohr aufgefressen“, kreischt die blonde Schwester hysterisch.
„Mann, im OP darf nicht gegessen werden! Außerdem könnten Sie ruhig warten, bis ich hier fertig bin. Sie stinken jetzt ja aus allen Löchern nach Knoblauch; inklusive Ihrem Ohrloch“, schimpft der Arzt.
Da kommt die Oberschwester auch schon mit meinem richtigen Ohr angelaufen.
Ich bin bestimmt einer der ersten Menschen, die sich tierisch über ein Wiedersehen mit ihrem rechten Ohr freuen.
„Na, Allah sei Dank“, flüstere ich erleichtert und falle vor lauter Schmerzen, Aufregung und Freude über das glückliche Auftauchen meines verlorengegangenen Ohres in Ohnmacht!

„Nein, Herr Engin und nochmal nein! Sehen Sie es endlich ein, mit nur einem Ohr auf der linken Seite dürfen Sie in Deutschland nicht leben. Schauen Sie sich doch um, hier bei uns haben doch alle Menschen mindestens zwei Ohren. Und Sie wollen mit nur einem Ohr dazugehören?“, ruft Frau Kottzmeyer-Göbelsberg energisch.
„Aber als ich damals in der Türkei von deutschen Ärzten untersucht worden bin, da hatte ich noch beide Ohren. Glauben Sie mir bitte, die hätten mich sonst niemals kommen lassen.“
„Wer weiß, vielleicht waren Ihre beiden Ohren genauso gefälscht wie Ihr Urin. Es tut mir leid, Herr Engin, in sechs Tagen müssen Sie Deutschland verlassen haben! Hier haben wir keinen Platz für einohrige Monster!“
Der Beamte am Schreibtisch gegenüber zeigt mir demonstrativ seine beiden Lauscher.
„Arsch mit Ohren!“, rufe ich.
„Frau Kottzmeyer-Göbelsberg, haben Sie doch ein bißchen Geduld, vielleicht wächst das rechte Ohr ja wieder nach!“
Aber ihre Miene verfinstert sich, ihr Ton wird schneidend:
„Warten Sie in der Abschiebehaft darauf!“
In dem Moment packen mich zwei kräftige Polizeibeamte fest an den Armen. Ein Polizist drückt besonders fest meine Hand.
Total verschwitzt wache ich im Krankenhaus aus meiner Bewußtlosigkeit auf und blicke in die besorgten Augen meines Taxifahrers, der neben meinem Bett sitzt und meine Hand hält. Ich bin überglücklich, daß alles nur ein böser Traum war. Doch dann fällt mir die Realität ein: Leider ist die auch nicht viel besser!
„Wachen Sie auf, Herr van Gogh, wachen Sie auf“, brüllt mir der Taxifahrer in mein frischmontiertes Ohr „meine Schicht ist um. Ich muß das Taxi zurückbringen. Sie schulden mir jetzt schon über 900 Mark!“

Zum Titel




Es ist schon eine halbe Stunde über die Zeit, aber die Protestveranstaltung gegen meine Abschiebung hat immer noch nicht angefangen. Ich bin, ehrlich gesagt, angenehm überrascht, daß so viele Menschen ausschließlich meinetwegen heute Abend ins Bürgerzentrum gekommen sind. Langsam wird die Masse genauso unruhig wie ich.
„Du, Mehmet, wann geht‘s denn endlich los, die Leute langweilen sich hier schon?“, frage ich meinen Sohn.
„Wir haben noch etwas Zeit, Vater, das akademische Viertel sollte man bei sowas schon abwarten. Die meisten Leute kommen ja noch!“
„Aber wir sind doch schon zwei Viertelstunden über die Anfangszeit. Fast vierzig Minuten!“
„Aber ich sag doch: akademisches Viertel!“
„Ich hab‘s ja gewußt, in der Uni gehen die Uhren doch anders.“
„Na, Osman, ist doch ‘ne tolle Veranstaltung geworden, oder?“ klopft mir Ali, der selbsternannte Rächer aller entrechteten Ausländer, der Beschützer aller Witwen und Weisen, lässig auf die Schulter.
„Ja, ja, toll gemacht, Ali. Aber wollen wir nicht so langsam mal anfangen?“
„Kein Problem, wir fangen gleich an. Wir haben uns nur wegen der Eröfnungsreden noch nicht einigen können.“
„Das ist doch ganz einfach. Mach es doch wie bei den US-Präsidenten: Leydis änd Centelmen, hir is...“
„Nein, nein, nein, es geht nicht um den Inhalt, das ist nicht ganz so wichtig! Im Komitee für den heutigen Abend sind nicht weniger als acht verschiedene Initiativen zusammengeschlossen. Das Problem ist, in welcher Reihenfolge die Begrüßungsreden gehalten werden. Mach dir mal keine Sorgen, das kriegen wir schon hin. Aber jetzt mal unter uns, Osman, wenn die Sache mit der Abschiebung doch schiefgeht, dann ist ja wohl klar, daß ich in deine Wohnung einziehe?!“ ruft er während er verschwindet.
„Nur über meine Leiche“, sage ich nicht. Ich will keine schlafenden Hunde wecken. Man weiß nicht, wozu die Leute bei dieser Wohnungsnot fähig sind.
„Eins, zwei, eins, zwei; Mikrofontest, Tonprobe!“
Oh, endlich, jetzt geht‘s los!
„Sagen Sie mal, wann bin ich denn dran mit meiner Rede?“ frage ich erwartungsvoll.
„Das dürfen Sie mich nicht fragen. Ich bin hier nur für die Anlage zuständig“, ruft er von der Bühne runter und pustet dreimal kräftig in das Mikro.
„Jetzt geht‘s loooos, jetzt geht‘s loooos“, singt der ganze Saal im Chor. Mit soviel geballter Kraft im Rücken kann mich bestimmt keine Behörde mehr abschieben. Froh, das ganze Volk hinter mir zu haben, brülle ich mit:
„Jetzt geht‘s looos, jetzt geht‘s loooos“ und haue mit den anderen dabei rhythmisch auf die Tische. Endlich kommt ein junger Bursche mit Vollbart unter dem starken Beifall der Besucher auf die Bühne.
„Guten Abend, liebe Freundinnen und liebe Freunde und die zahlreichen von uns eingeladenen Medienvertreter begrüße ich auch im Voraus, obwohl die noch nicht da sind!“
Ich halte es bei meiner Frau am Tisch nicht mehr aus und stehe startklar neben der Bühne, jederzeit bereit, einer plötzlichen Einladung nachzukommen.
„Wir haben uns heute Abend hier versammelt unter dem bewegenden Motto: ‘Ein Herz für Ausländer´“, ruft er weiter. Dieser tolle Spruch bekommt zurecht unser aller Beifall.
„Und ich sage euch, wer auch nur ein Leben rettet, der rettet da selbst die ganze Welt. Wer auch nur einen Menschen abschiebt, der schiebed alsda die ganze Welt ab!“
Nach diesem unglaublichen Satz springt der ganze Saal auf und klatscht begeistert Beifall.
„Ich möchte mich kurz vorstellen, ich bin der stellvertretende Vorsitzende vom ‘Liebe deinen Nächsten wie dich selbst e.V.´ Um diesen Solidaritätsabend möglich zu machen, hat unser Verein ganz alleine in der Kürze der Zeit 750 Plakate drucken lassen und sie über Nacht in der ganzen Stadt angeklebt“, ruft er weiter.
Der Beifall kommt jetzt nur noch von drei Tischen, rechts von der Bühne. Alle anderen pfeifen und schreien:
„Buuuhh, pfuuuii! Aufhören, aufhören!“
Der Redner regt sich richtig auf:
„Daß hier jetzt einige pfeifen, ändert überhaupt nichts an der Tatsache, daß die anderen Organisationen nur auf dem Papier, bzw. auf den Plakaten als Mitveranstalter für den heutigen Abend aufgetreten sind. Keiner der Initiativen hat daran gedacht, uns Helfer zu schicken, um die Stühle aufzubauen.“
„Pfuuiii, buuuhh, Lügner!“
Ein anderer junger Bursche stürmt an mir vorbei auf die Bühne und schiebt den anderen Redner energisch vom Mikrofon weg.
„Guten Abend, liebe Freundinnen und Freunde! Das kann hier so nicht unwidersprochen im Raum stehenbleiben. Ich bin der Sprecher der Initiative ‘Das Haar in der Suppe mißfällt uns sehr, selbst wenn es vom Haupt der Geliebten wär´. Unsere tagelangen Bemühungen, die Medienvertreter von Zeitung, Funk und Fernsehen für die heutige Veranstaltung zu mobilisieren, wird typischerweise mal wieder nicht erwähnt. In diesem Zusammenhang möchte ich die Leute von ‘Liebe deinen Nächsten wie dich selbst e.V.´doch mal fragen, wer denn eigentlich die Vorlage für das Plakat zusammengestellt hat?! Die können auch nicht leugnen, daß wir den Saal für diese Veranstaltung organisiert haben.“
Ich zupfe von unten vorsichtig an seiner Hose und frage leise:
„Und ich? Wann muß ich denn meine Rede halten?“
„Halt dich da raus! Dich hat keiner gefragt“, zischt er zu mir runter, während er das Mikro zuhält und ruft danach mit engagierter Stimme in den Saal:
„Weil die Typen noch nie einen so gelungenen Abend organisiert haben, können die Brüder doch gar nicht wissen, wie kompliziert es ist, in so kurzer Zeit einen passenden Saal zu mieten!“
Blitzschnell springt diesmal eine junge Frau mit Igelfrisur auf die Bühne und reißt das Mikro an sich:
„Den ganzen Abend schon, auch hinten im Büro, reden die Leute von der Initiative ‘Das Haar in der Suppe mißfällt uns sehr, selbst wenn es vom Haupt der Geliebten wär´, davon, wie schwierig es war, diesen Saal zu mieten. Ich frage Sie, liebes Publikum, was soll denn daran kompliziert sein? Verzeihen Sie bitte, daß ich so aufgebracht bin. Ich habe sogar versäumt, mich vorzustellen. Ich bin die Ilse, vom Komitee ‘Quod tibi fieris non vis, alteri non feceris´. Was auf gut Deutsch heißen soll: ‘Was du nicht willst, daß man dir tu‘, das füg‘ auch keinem andern zu´! Unser Komitee hat die gesamte Saalmiete für den heutigen Abend ganz alleine aufgebracht. Aber davon spricht kein Mensch, obwohl das mit Sicherheit das Wichtigste ist.“
Tosender Beifall kommt von den vier Tischen ganz hinten am Eingang, während alle anderen demonstrativ gähnen.
Vorsichtig zupfe ich an ihrem langen, blauen Hippirock, um mich von unten bei ihr bemerkbar zu machen. Und frage ganz leise:
„Entschuldigen Sie Fräulein, wann darf ich denn meine Rede halten? Schließlich geht es doch um meine Abschiebung!“
„Fummel nicht an meinen Beinen rum, du Macker!“ Und sie zerquetscht mit ihrem schweren Stiefel meine rechte Hand.
„Osman, das ist ja wohl die Höhe, wie kannst du denn nur der armen Frau vor allen Leuten einfach unter den Rock packen“, bekomme ich anschließend noch von Eminanim am Tisch zu hören. Während ich meine Hand im Colaglas kühle, stöhne ich:
„Aber Frau, was sollte ich denn sonst machen? Du siehst doch, die nehmen überhaupt keine Notiz von mir. Die Leute hier machen sich doch nur alle gegenseitig fertig. Die können ihre Grabenkämpfe doch woanders austragen. Wir sind schon fast zwei Stunden hier und die haben meinen Namen noch kein einziges Mal erwähnt.“
„Was soll‘s, das Programm gefällt dem Publikum offenbar. Irgendwie sind alle Besucher Mitglieder von irgendwelchen Vereinen. Unseretwegen scheint gar keiner gekommen zu sein.“
Plötzlich stürmen zwanzig ausländische Kinder in Folklorekostümen auf die Bühne. Eine schrecklich laute Musik aus einem kleinen Kassettenrecorder untermalt ihren Auftritt.
„Komm Eminanim, gehen wir raus. Diese Folkloregruppe habe ich schon fast tausend mal ertragen müssen. Laß uns an Alis Döner-Stand eine Kleinigkeit essen.“
Während wir kauen, macht Ali Kassensturz:
„Na, Osman, war doch eine gelungene Veranstaltung, oder? Ich habe einen Bombenumsatz gemacht!“ Bevor ich unhöflich werde, zieht meine Frau mich zur Seite:
„Du, Osman, ich habe am Nebentisch gehört, daß die Behörden bei einer Abschiebung nicht bis zum letzten Tag warten. Damit die Leute nicht heimlich untertauchen, werden sie ein paar Tage vorher verhaftet und in Gefängnisse gesteckt, die man speziell dafür gebaut hat. Das sage ich dir, Osman, kampflos lasse ich mich nicht abtransportieren. Aus dieser blöden Veranstaltung wird sowieso nichts. Ich gehe lieber nach Hause und verbarrikadiere die Wohnung. Wenn die Polizisten heute Nacht kommen, dann werden sie ihr blaues Wunder erleben!“
„Mach das, Eminanim. Aber ich kann nicht mitkommen. Ich muß hier noch meine Rede halten. Da warten doch alle drauf.“
„Mach dir doch nichts vor, Osman. In Wirklichkeit bist du hier der Einzige, der auf deine Rede wartet“, ruft sie mir bissig zu, während sie in der Dunkelheit verschwindet. „Noch was, Osman, unsere Chiffre ist ‘Kiwi´! Ohne diesen Geheimcode kommt niemand mehr in unsere Wohnung rein. Merk es dir gut. Nicht Banane, nicht Apfel oder Avokado, sondern Kiwi!“
Im Saal plärrt immer noch der Kassettenrecorder und ich genehmige mir meinen dritten Döner. Ich muß doch eine Rede halten. Wie sagt man so treffend: Hungriger Bär tanzt nicht so schön!
Ob hinter dieser Geschichte mit Indien der Leckmikowski aus der Zone steckt?
Frau Kottzmeyer-Göbelsberg wollte mich in die Türkei abschieben, Leckmikowski bestand aber auf den Fidschis. Aus Kostengründen haben sich die beiden bestimmt in der Mitte geeinigt! So wird‘s wohl gewesen sein!
„Sagen Sie mal, wann bin ich denn endlich dran?“ frage ich leicht verärgert mit vollem Mund einen der Veranstalter, der gerade aus dem Saal herauskommt.
„Das mußt du schon diese Idioten von der Initiative ‘Das Haar in der Suppe mißfällt uns sehr, selbst wenn es vom Haupt der Geliebten wär´ fragen. Die Knallköppe tun doch unverschämter Weise so, als hätten sie ganz alleine die gesamte Veranstaltung organisiert. Diese Kulturbanausen sind typischerweise demonstrativ rausgegangen, als unsere Folkloregruppe aufgetreten ist!“
„Das kann doch nicht sein, ich stand die ganze Zeit hier vor der Tür. Von denen habe ich niemanden rauskommen sehen.“
„Die sind alle zusammen durch den anderen Ausgang gegenüber raus“, antwortet er sichtlich verärgert. Mit seinen vier Begleitern steigt er in ein Auto und fährt los.
„Halt! Bleibt doch hier! Nicht wegfahren. Wollt Ihr etwa meine tolle Rede nicht hören, oder was?“ schreie ich dem stinkenden Diesel hinterher.
Danach tue ich so, als hätte ich die vier Mittelfinger, die aus dem klapprigen Wagen rausgestreckt werden, in der Dunkelheit nicht sehen können. Stattdessen winke ich freundlich und laufe zurück in den Saal.
Bei Allah, wie konnte denn das passieren? Es sind wirklich nur noch sieben Leute im Saal. Und die ziehen sich auch gerade an, um wegzugehen.
„Geht nicht weg, der wichtigste Teil des Abends kommt noch“, rufe ich ihnen zu und klettere so schnell wie ich kann auf die verlassene Bühne.
„Hallo! Hey! Macht doch keinen Quatsch. Bleibt noch einen Moment. Ich halte doch noch eine Rede“, brülle ich den beiden letzten Leuten hinterher, die gerade den Saal verlassen wollen. Aber diese Ignoranten drehen sich nicht einmal um. Das sind wahre Ausländerfreunde. Die haben mir nicht mal den ausgestreckten Mittelfinger gezeigt.
In dem Moment versucht der Tontechniker auch noch mein Mikro abzuschrauben.
„Lassen Sie die Finger davon! Ich habe extra für diesen Abend eine acht Seiten lange Rede geschrieben. Drei Stunden habe ich mich hinhalten lassen. Jetzt setze ich mich aber durch!“
„Alles klar, Alter! Beruhige dich wieder. Ich muß sowieso noch andere Kabel aufrollen.“
Obwohl nur noch der Tonmensch da ist, halte ich meine engagierte Rede. Verglichen mit meiner Rede ist das kommunistische Manifest nicht aufrüttelnder als die Speisekarte von Alis Dönerladen.
Aber wie heißt es so schön: Wenn man nur einen einzigen Menschen rettet, dann rettet man die ganze Menschheit. Und ich denke, wenn man auch nur einen einzigen Tontechniker überzeugt, dann überzeugt man im gewissem Sinne die ganzen Tontechniker der Menschheit:
„Leydis änd Centilmen, liebe Vereinsfreunde, hochverehrtes Publikum und liebe Tontechniker!
Ich lebe seit mehr als 30 Jahren in diesem unserem Kaff ..., ich meine natürlich in dieser schönen Stadt. Sie alle wissen, wessen man mich beschuldigt. Sie alle wissen um die Ungerechtigkeiten des deutschen Ausländergesetzes. Ich gestehe, früher habe ich mich nie um das Ausländergesetz gekümmert. Ich habe mir früher niemals Gedanken darüber gemacht, wie inhuman die deutsche Abschiebepraxis ist. Es kann nicht rechtens sein, wenn hilflose Menschen aus ihren Häusern vertrieben und gegen ihren Willen des Landes verwiesen werden! Nun bin ich der Betroffene, und ich danke Allah, daß es so viele aufrechte Bürger in dieser Stadt gibt, die sich gegen dieses zum Himmel schreiende Unrecht auflehnen.
Wie gesagt, was sie mit den armen Asylbewerbern machen, ist unmenschlich. Aber was sie mit mir machen, ist wahrhaft unglaublich. Die Behörde will mich allen Ernstes als abgelehnten Asylbewerber abschieben. Dabei habe ich niemals um Asyl gebeten! Ich bin kein Flüchtling! Ich bin Schlosser in Halle 4!
Politischer Flüchtling, das kann ich nicht gewesen sein! Denn ich hasse Politiker wie die Pest. Diese Arschlöcher haben doch alle eine Macke! Warum sonst fängt das Wort ‘Politik´ denn sonst mit ‘Po´ an und endet mit ‘tik´?!
Wirtschaftlicher Flüchtling, auch das kann ich nicht gewesen sein. Bei meinem dicken Bauch kann ich nur selten an Hunger gelitten haben. Und zwar nur dann, wenn sich meine Frau grundlos weigerte, mir jeden Tag meine Bohnensuppe zu kochen. Und vor der Unterdrückung in der Ehe kann ich auch nicht geflüchtet sein, denn wie Sie alle wissen, wohne ich mit meiner Frau Eminanim immer noch zusammen, leider. Welcher Idiot würde denn ausgerechnet in das Land flüchten, mein liebes Publikum, in dem die Frau lebt, mit der er schon 33 Jahre verheiratet ist?! Welch geistig gesunder Ehemann würde schon so unlogisch handeln, frage ich Sie?! Welches Schaf flüchtet schon freiwillig zum Schlachter? Welcher Fisch geht schon gerne ins Netz? Wer geht schon selbst ins Gefängnis? Und welcher Lebensmüde würde schon freiwillig nach Deutschland flüchten, wo auf das Leben von Asylbewerbern mehr Anschläge verübt werden, als in Kambodscha und Libanon zusammen?
Danke, danke liebes Publikum, für diesen phantastischen Applaus! Ihr seid großartig.
Danke, danke, das reicht nun wirklich. Ich kann es nicht oft genug sagen: Ich bin ein Produkt eurer Liebe! Ihr habt mich zu dem gemacht, was ich jetzt bin. Für einen Künstler gibt‘s nichts Schöneres auf der Welt, als die Anerkennung durch seine Fans. Das Glück, vor vollen Sälen auftreten zu dürfen, hat nicht jeder Schlosser in Halle 4.
Ich danke allen meinen Freunden von den verschiedenen Bürgerinitiativen für die Ermöglichung dieses überaus erfolgreichen Abends. Ich verbeuge mich vor ihrem selbstlosen Einsatz und bedanke mich nochmals von ganzem Herzen. Kein Gesetz und keine Regierung dieser Welt kann uns unterkriegen, wenn wir weiter so geschlossen für unsere Rechte kämpfen.
Haben Sie bitte ein Einsehen, wenn ich angesichts dieser beispiellosen Solidarität mit meinen Tränen kämpfen muß! Aber kommen wir wieder zurück auf den eigentlichen Grund unseres heutigen Treffens.
Liebe Kollegen, was heute mich betrifft, kann morgen euch widerfahren. Diese Behördenwillkür hat überhaupt keine Logik. Wenn es für meine Familie nicht so tragisch wäre, dann könnte ich die Situation nahezu als komisch bezeichnen.
Aber wissen Sie, was wirklich komisch ist? Die Ausländerbehörde will uns nach Indien abschieben! Doch, doch, Sie haben richtig gehört. Osman soll nach Indien! Hat man je davon gehört, daß Türken nach 30 Jahren Deutschland zu Indern werden? Was werden denn die Griechen nach vierzig Jahren? Etwa Mongolen? Und die Italiener? Werden die etwa nach fünf Jahren zu Marokkanern? Was ist mit den Portugiesen? Werden die etwa Perser? Oder wird ab sofort jeder, der einen Kopfverband trägt, wie ich, grundsätzlich nach Indien abgeschoben?! Schickt die Ausländerbehörde alle Bartträger nach Kuba zu Fidel Castro? Alle Glatzköpfe zu Kojak nach Mänhätten, und weist sie alle fetten Birnen nach Oggersheim aus?!
Wohin wollen sie mich denn abschieben, wenn ich bald keinen Kopfverband mehr brauche? Vielleicht nach Italien? Weil ich italienische Spaghetti mag? Oder etwa nach Japan? Weil ich einen japanischen Videorecorder habe?
Vielleicht ist das auch eine neue Strategie der Deutschen, um die vielen Türken aus der Türkei zu vertreiben. Damit man im Urlaub nicht von denen belästigt wird.
Eins habe ich gelernt, möglich ist alles. Nicht Amerika, sondern Deutschland ist das Land der unbegrenzten Möglichkeiten. Zumindest für Asylpolitiker.
Leydis änd Centilmen, liebe Vereinsfreunde, hochverehrtes Publikum und liebe Tontechniker, ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit, mit der Sie meiner Rede gelauscht haben!“
Nach meiner bewegenden Rede wische ich mir mit zittriger Hand den Schweiß von der Stirn und frage mit bebender Stimme die Menschheit:
„Jetzt sagen Sie mir ehrlich, junger Mann, wie fanden Sie denn meine Ansprache?“
„Was ist los? Was soll ich finden?“ fragt er verwirrt, während er eine riesige Metallkiste hinter sich herschleift. Die Menschheit ist auch nicht mehr das, wie sie früher mal war.
„Mann, meine Rede! Wie fandst du die? Jetzt mal ehrlich!“
„Du, Alter, tut mir echt leid, ey! Ich hab nichts gehört. Die Anlage habe ich schon vor einer halben Stunde ausgeschaltet. War bestimmt ganz toll, deine Rede. Aber kannst du damit jetzt draußen weitermachen?!“

Zum Titel